Donnerstag, 17. November 2011

Ein Tag am Meer



Kalt ist es hier. Nass auch. Um mich herum weißes Rauschen. Wasser im Mund, im Hals, im Magen. Wasser bald auch in meiner Lunge und wo ist eigentlich dieses verdammte Rettungsboot, das längst neben mir schwimmen müsste? Wütend bin ich. Verängstigt aber auch. Über meinem Kopf schlagen die Wellen zusammen und ich schlucke noch mehr Wasser. Meerwasser. Ich könnte jetzt Schwimmhäute gebrauchen.  Irgendwo muss doch jemand sein, der bemerkt dass mir hier gerade die Luft ausgeht. Rettungsschwimmer, wo bist du, wenn man dich braucht? Vögelst du gerade in einer Umkleidekabine, während ich hier ertrinke? Ja ich ertrinke, verdammt nochmal und warum hört mich eigentlich keiner?

Panik, jetzt ist sie da. Fließt wie eine zweite Welle über mich hinweg und ich merke, wie meine Muskeln krampfen. Meine Augen quellen aus den Höhlen und ich strample in diesem beschissenen Wasser, platsche Hilflos über einer gähnenden Untiefe, die mich nach unten zieht. Immer weiter nach unten. Die Wellen schlagen über meinem Kopf zusammen und ich höre eine Möwe über mir kreischen. Unter mir schwimmen silberne Fische und wahrscheinlich freuen sie sich darauf, mein Gesicht zu fressen, wenn ich endlich ersoffen und aufgeweicht mit dem Bauch nach unten durch ihre Welt treibe.

Kalt ist es hier und um mich herum wird das Rauschen immer lauter. Wasser in meiner Nase, in meiner Luftröhre. Ich huste und pruste und denke an den idiotischen Wolf, der versucht hat das Steinhaus des dritten Schweinchens umzublasen, bis er explodiert ist. Bald explodiere ich auch, zumindest innerlich. Wenn meine Lungenbläschen platzen, während das letzte bisschen Leben aus meiner Harnröhre schießt und sich mit dem Salzwasser vermischt, das nun wirklich jede meiner Körperöffnungen ausfüllt und warum zur Hölle wollte ich in dieses verfluchte Wasser springen und bis zur Unendlichkeit schwimmen, wenn ich doch ganz genau wusste, dass ich kaum schwimmen kann?

Langsam geht mir wirklich die Kraft aus und Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann schick mir jetzt jemanden der mich hier herausholt! Lass nicht zu, dass ich hier derart erbärmlich krepiere. Ja ich weiß, ich bin aus der Kirche ausgetreten, aber jetzt ehrlich, so unter uns beiden, Glaube ist doch keine Vereinssache, oder? Bitte!

Die letzte Welle war eine zuviel, jetzt gehe ich endgültig unter. Über mir verschwimmt der Himmel. Ich höre nichts mehr, sehe nichts mehr und mein Ich verkümmert zu einem kleinen Punkt in der Mitte meines Körpers. Der Rest ist erbärmlicher Schmerz, ein gewaltiges Zucken und sich Winden, das nicht aufhören will, während ich immer tiefer sinke. Ich reiße die Augen auf und sehe eine silberne Wolke vor meinem Gesicht aufsteigen. Mein letzter Atemzug, der an die Oberfläche steigt. Es wird dunkel. Ich sehe mein Leben an mir vorbeitreiben und es ist fürchterlich. Es ist unfertig, lückenhaft und voller Fehler, wie die erste Häkelarbeit eines Kleinkindes. „Ich war noch nicht fertig!“ schreie ich durch das verfluchte Wasser nach oben und ich frage mich, ob das irgendwen interessiert. Dann denke ich nichts mehr. Ein letztes Zucken, als meine Lungen verzweifelt versuchen das Meer einzuatmen. Ein letztes Krampfen, als mein Körper aufgibt. Mach’s gut, liebe Welt, ich war noch nicht fertig mit dir, aber das muss jetzt jemand anderes übernehmen. Mach’s gut, liebe Welt, so lieb warst du gar nicht, aber doch irgendwie geil. Mach’s gut und wenn du mich vermisst, du weißt ja, wo du mich findest…

© Sybille Lengauer


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